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Bildung:
Reisen auf
freiem Land


 

Bildung ist der Schlüssel zur Freiheit. Soll die zunächst abstrakte Bedeutung von Bildung eine Form bekommen, könnte es also die eines Schlüssels sein.

2020 hat Netflix die Mystery-Horror-Serie Locke & Key gestartet. Sie handelt von den drei Geschwistern Tyler, Kinsey und Bode, die den Mord an ihrem Vater miterleben. Nach dem traumatischen Erlebnis ziehen sie mit ihrer Mutter von Seattle nach Massachusetts und suchen das Familienerbe auf: das Key House. Damit kehrt Leben in die geisterhafte Villa zurück und die Familie Locke ist wieder an ihrem Urspruch angekommen. Nach und nach finden die drei Kids dort verschiedene Schlüssel, von denen jeder eine andere magische Fähigkeit trägt. Der Überall-Schlüssel etwa passt in jedes Türschloss und bringt denjenigen, der ihn nutzt, zu einem von ihm gewünschten Ort. Mit dem Kopf-Schlüssel können die Köpfe anderer Personen betreten werden, um deren Erinnerungen anzusehen. Durch den Geist-Schlüssel werden Körper und Geist voneinander gekoppelt. Das Bewusstsein des Schlüsselträgers kann dann das Key House verlassen und draußen beliebig umher schweben. Es gibt neun weitere Schlüssel, die die Handlung der ersten Staffel der Serie vorantreiben.

Ähnlich fasse ich alles rund um Bildung auf. Jeder Lebensweg ist definiert von den ihn umgebenden Räumen. Dabei kann es sich um Räume handeln, die zum Beispiel in der Umgebung von Eltern, Geschwistern, Freunden, Lehrern oder Arbeitgebern verortet sind. Überall in diesen Räumen liegen Schlüssel. Manche sind besser versteckt als andere und dem einen wohnt eine spannendere Fähigkeit inne als dem nächsten. Grundsätzlich aber können all diese Schlüssel aufgesammelt und mitgenommen werden. Im Ganzen geben sie das Versprechen auf die Entschlüsselung eines Weltverständnisses. Pragmatiker merken schnell, dass hinter jeder Tür mindestens zwei weitere warten und der Weg zu einem ganzheitlichen Verstehen vermutlich ein unendlicher ist – außerdem ein beschwerlicher. Denn nicht für jede Tür liegt der passende Schlüssel parat. Wie in einem Computerspiel müssen zunächst höhere Level bestritten und mehr Artefakte gesammelt werden, um an späterer Stelle ein Tor in der vorherigen Welt öffnen zu können.

Schlüssel für magische Lebensräume

Umgebungen erkennen

Kinder sind in der Regel weniger pragmatisch als Erwachsene. Für sie gibt es überall Türen. Dabei verbirgt sich hinter jeder eine fantastische Welt. Selbst an verborgenen Orten stöbern sie Schlüssel auf und finden Öffnungen dafür, die Erwachsene gar nicht sehen.

Als ich vor einigen Jahren mit meinem Neffen im Auto unterwegs war und merkte, dass ihm die Augen zufielen, witterte ich eine Chance. In der Hoffnung, ihn zum Einschlafen zu bringen, fuhr ich mehrmals um denselben Häuserblock. Das gemäßigte Fortbewegen auf der immer gleichen und überschaubaren Strecke wirkte auch auf mich beruhigend und ich hätte stundenlang so weitermachen können. Schon nach der dritten Runde aber kam ein Vorwurf von der Rückbank: An diesen Häusern seien wir eben schon vorbeigefahren. Unter verschiedenen Ausflüchten zog ich einige zusätzliche Kreise, bis ich schließlich aufgab. Mein Neffe ließ nicht locker und empörte sich stets von Neuem, dass wir an diesen und jenen Stellen bereits vorbeigefahren seien. An Einschlafen war nicht mehr zu denken. Mit wehenden weißen Fahnen leitete ich den Rückzug ein.
Für Eltern ist das eine von vielen Alltagssituationen, die sie mit ihren Kindern teilen. Damals konnte ich nicht glauben, dass meine perfide Taktik so schnell hatte durchschaut werden können. Der kleine Knappe hinter mir schien mit seinem stumpfen Holzschwert immer wieder auf meine Finger am Steuer zu tippen. Dabei konnte er nicht wissen, dass es nicht unser Ziel war, wiederholt um den Block zu fahren. Er selbst war bis vor Kurzem im Kreis gerannt, während ich die Enten gefüttert hatte. Jetzt fuhr ich im Kreis, während er einschlief – warum war das komisch?

Der Fehler lag bei mir: Ich unterschätzte, dass mein Neffe längst eine Tür gesehen und aufgeschlossen hatte, die ich innerhalb seiner Wahrnehmung noch nicht vermutetet hatte – höchstens versteckt hinter viel Laub und Moos. Der Schlüssel für diese Tür könnte lauten: Bewegungs-Schlüssel. Ich fuhr im Kreis und ging davon aus, dass ein dreijähriges Kind das entweder nicht bemerkt oder zumindest nicht hinterfragt. Mein aufmerksamer Begleiter aber hatte irgendwo in seinem kurzen Leben bereits diese Tür entdeckt und den dafür notwendigen Schlüssel aufgelesen. Auf der anderen Seite der Tür hatte er gelernt: Das Bewegungsprinzip eines Autos ist nicht der Kreis, sondern die Lineare. Auf dem Holzpferd eines Karussells mag die kreislaufende Fortbewegung gewöhnlich sein, in einem PKW aber muss diese Art der Bewegung misstrauisch beäugt oder zumindest kritisch hinterfragt werden. Kurzum: Er hatte schon gelernt, Autos fahren von A nach B. Fuhr man regelmäßig an denselben Häuserreihen vorbei, konnte also etwas nicht stimmen. Meine Strategie war kläglich gescheitert. Besiegt steuerte ich unsere Kutsche wieder auf die Gerade, die zwischen A und B verlief.

Das Ereignis kam mir einigermaßen infam vor. Andererseits wäre es für uns beide wenig spannend gewesen, den ganzen Nachmittag um denselben Häuserblock zu fahren. Es ist aufregender, ein Ziel vor Augen zu haben und sich auf dieses Ziel zuzubewegen. Selbst wenn man die Ziellinie nie erreicht, begegnen auf dem Weg dorthin viele Abzweigungen und Türen, hinter denen neue Räume mit neuen Zielen warten. Die eigene Bewegung wird zur Entdeckungsreise. Und das Bewegungsmuster, auf dem Entdeckungsreisen stattfinden, ist bestenfalls auch dasjenige, auf dem Bildung passiert. Denn Bildung als ein weitverzweigtes Wegenetz mit unzähligen geheimen Türen und magischen Schlüsseln zu verstehen, macht den Vorgang von Bildung erst spannend.

Prinzip von Bewegung

Das Recht auf Bildung

Steht ein Kind vor zwei Türen und hat es beide bereits geöffnet, dabei hinter der einen reihenweise staubige Folianten, hinter der anderen fliegende Uhren und galoppierende Einhörner gefunden – für welchen Raum wird sich das Kind entscheiden?
Bildung muss begeistern. Sie muss Neugierde wecken, spannend sein und sie muss Anstoß geben. Sie muss stattfinden in einem freien Umfeld, das, sofern eine Hierarchie vorhanden ist, diese respektvoll wahrt. Das Ungleichgewicht in Strukturen darf nicht instrumentalisiert und missbraucht werden. Andernfalls passieren nicht Bildung und freie Entfaltung, sondern Manipulation und Indoktrination. Ein Recht auf freiheitsbestimmte Bildung haben nicht nur Kinder. Auch für Jugendliche und Erwachsene hat das Recht auf Bildung ein Leben lang Geltung. Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht. Gemäß Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu den Menschenrechten am 10. Dezember 1948 geschlossen worden ist, ist Bildung ein kulturelles Menschenrecht, durch das die Verwirklichung anderer Menschenrechte gefördert wird.

Artikel 26: Recht auf Bildung
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

  1. Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen.

  2. Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.

  3. Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteilwerden soll.

Der Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist ein wichtiger Schlüssel. Ob und wie dieser Schlüssel jedem Menschen auf jedem Teil der Erde zugänglich ist, ist eine andere Frage. Kontinent und Heimatregion, ökonomischer und sozialer Stand sowie politische, kulturelle und zeitgeistliche Situation definieren zunächst die Chancen auf Bildung. Diese Parameter legen mitunter fest, wie viele Türen und wie viele Schlüssel ein Mensch im Repertoire seines Bildungsweges finden kann. Je nach Schulbildung und beruflichem Werdegang und alten wie neuen Bekanntschaften verändert sich der Umfang dieses Repertoires. Hat man es gut getroffen, gelangt man irgendwann an einen Knotenpunkt mit diversen Stellschrauben, die eine Ausgestaltung von Lernen möglich machen und helfen, den eigenen Bildungsweg freier zu gestalten. Für mich sind diese Stellschrauben Austausch, Humor und Fantasie. Der Austausch mit Menschen, die von anderen Lebens- und Erfahrungswelten geprägt sind, eröffnet neue Perspektiven. Humor hilft, dem Ernst der Realität entgegenzuwirken und außerdem Neugierde und Lust am Lernen zu bewahren. Fantasie ist ein allgültiger Schlüssel für im Grunde jede Tür, die man findet. Bis zu einem gewissen Grad kann sie als Kopf-Schlüssel Verwendung finden, sodass zuerst trockene Lernsituationen später eine aufregendere Gestalt bekommen.

Langweilte ich mich beispielsweise in einer Mathestunde, konnte ich mir die Szene im Nachhinein oder bestenfalls währenddessen neuerzählen. Plötzlich also rollte ein Tumbleweed durchs Klassenzimmer. Im Hintergrund spielte jemand auf einer Mundharmonika Spiel mir das Lied vom Tod und ein Cowboy mit cooler Friese kam rein, dessen verknittertes Gesicht ein tiefes Raunen durchs Klassenzimmer schickte. Wie alter Wrigley’s-Kaugummi drangen die Worte in unsere Ohren: Hier drin riecht‘s nach altem Mann, Schnaps und Hoffnungslosigkeit. Ein lässiger Clint Eastwood. Wenn ich Glück hatte, konnte ich die Sache mit Sinus und Kosinus dann besser verstehen. Wurden wir in Deutsch mit Theodor Fontanes Effi Briest geplagt, wuchsen dem Reclam-Buch schwarze Tentakel. Arielles Todfeindin Ursula kroch hervor und machte Anstalten, uns alle in das schreiende Reclam-Gelb zu ziehen, um die Ewigkeit in Effis Jammertälern zu fristen. Ein Kampf auf Leben und Tod prägte die Doppelstunde und die Ereignisse um Effi ließen sich besser erinnern. Viele Jahre später hatte ich die Verfilmung von Effi Briest durch den deutschen Regisseur Rainer Werner Fassbinder gesehen und meine Zuneigung zu der Hauptfigur und ihrer Geschichte entdeckt. Effi Briest war jetzt ein Raum, mit dem ich etwas anfangen konnte und für dessen Erforschung ich die notwendigen Schlüssel gesammelt hatte. Ursula war gebannt und stromerte zu anderen Reclam-Ausgaben, die sie sich untertan machte.

Clint Eastwood und Tentakel

Raumfarbe von Schule

Mein Schulweg und damit ein wichtiger Abschnitt meiner Bildung führte durch eine Realschule und ein Mädchengymnasium. Beide Institutionen stellen Räume für Bildung und beide haben der Bedeutung von Bildung eine jeweils andere Raumfarbe gegeben. Die Farbe der Mädchenschule war für mich besonders wichtig.

Denn in der Rückschau ist meine Schullaufbahn mit ihr ein bunter Ort: Hier sind junge Frauen junge Männer. Zumindest können sie das sein, wenn sie es wollen. Sie besetzen die Positionen und schlüpfen in diejenigen Rollen, die in gemischten Klassenverbünden üblicherweise von Jungs annektiert werden. Auf Mädchenschulen dürfen also auch Mädchen Klassenclowns und Störer sein. Sie dürfen laut, frech, missgelaunt und unnachgiebig sein. Sie rufen rein, lachen dazwischen, ecken an und schimpfen. Sie sind ätzend und brechen Regeln. Diese Rollenbilder sind zu interessant und zu wichtig, um sie zu leeren Platzhaltern verkommen zu lassen. Heute weiß ich, dass es uns stärker machte, nur uns Mädchen in den verschiedenen Rollen zu beobachteten. Wir lernten dadurch, dass auch wir alles konnten und dass auch wir alles durften, selbst wenn wir es nicht durften. In dieser geschlechtergetrennten Schule gab es keine Geschlechtertrennung. Für meinen Werdegang als Studentin und Arbeiterin war das monoedukative Schulkonzept eine wichtige Erfahrung. Es hat mir einige Schlüssel mitgegeben, die ich noch heute sinnvoll nutzen kann.

Schlüssel für meine Polbinare und Polbitouren sind neben dem gemeinsamen Lernen und Erleben auch Austausch, Humor und Fantasie. Sie helfen, die Stellschrauben für Bildung hochzuregeln. Das Erzählen von Geschichten steht hierbei im Mittelpunkt und fördert Lern- und Erkenntnisprozesse. Denn im Gegensatz zu reinen Fakten aktivieren Geschichten das menschliche Gehirn umfassend. Große Teile davon werden bei der Rezeption von Erzählungen aktiv, darunter das Broca-Zentrum (Grammatik und Sprachverständnis), das Wernicke-Zentrum (sensorische und logische Sprachverarbeitung) und Bereiche, die assoziatives Denken unterstützen und für die Verarbeitung von Sinneseindrücken zuständig sind.

Insgesamt machen Geschichten komplexe Muster und Botschaften verständlich, transportieren Werte und Haltungen, lösen Empathie und Emotionen aus und schaffen Identifikation über ihre Hauptfigurebn. Zudem gelangen sie ins episodische Langzeitgedächtnis, in dem Erinnerungen an persönliche Erlebnisse und Erfahrungen aufbewahrt werden – das Effi-Ursula-Prinzip: Weil Ursula aus dem Reclam-Heft gekrochen war, kann ich mich noch heute an Effis Lebensgeschichte erinnern. Unter dem strengen Diktat ihrer Eltern und den Schauergeschichten ihres kontrollierenden Ehemannes ist sie gestorben. Wie ein Tintenfisch haben die konventionellen Erwartungshaltungen und Kontrollinstanzen der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die junge Frau unter Wasser gezogen und erstickt.


 

Erzählen von Geschichten

make love not war

In meinem Studium waren Geschichten allgegenwärtig. Ich musste sie mir nicht mehr ausdenken, und da ich vor der Bologna-Reform ins Studentenleben eingestiegen bin, konnte ich spätestens während des Hauptstudiums frei zwischen ihnen wählen. Meinen Magister in Germanistik und Buchwissenschaft legte ich 2014 ab. Für meinen Abschluss war ich lange in Verlags- und Literaturarchiven unterwegs und interviewte Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Studentenrevolte in Westdeutschland und der Dissidentenbewegung in Osteuropa. Zentrum meiner Forschungen war der linke Verlag Rotbuch, der im Kollektiv geführt wurde und während der 1970er und 1980er Jahre linke Aufklärungsliteratur, Prosa und etwas Lyrik verlegte. Mit der 68er-Revolte konnte ich immer viel anfangen. Diese vielen jungen Leute, die nicht einverstanden damit waren, dass zahlreiche Altnazis in den Universitäten hohe Positionen bekleideten, und die aus der Kruste der Adenauer-Ära ausbrechen und ihren Verstand trainieren wollten – das war stark. Es war so viel mehr als make love not war und gleichzeitig war es das nicht. Denn im Zuge meiner Aufarbeitungen um die zersplitterte linke Bewegung mündeten das Pathos von Rudi Dutschke und die komplexen Gedankengänge der Frankfurter Schule stets in dieser einfachen Formel: make love not war.

In Berlin hatte ich mit dem ungarischen Schriftsteller und ehemaligen Dissidenten György Dalos gesprochen. In seinen Büchern bemüht er sich noch heute um eine bessere Verständigung zwischen Ost und West. Er war einer von mehreren osteuropäischen Autoren, die bei Rotbuch debütierten. In verschiedener Hinsicht waren diese Debüts beachtlich: Zum einen war es für Schriftsteller der Moskauer Satelliten-Staaten im Grunde unmöglich, ihre Werke durch den Eisernen Vorhang nach Westen zu bringen. Zum anderen bekannte der Kollektivverlag damit Farbe und zwar eine undogmatische. Viele West-Linke sahen im politischen System der Sowjetunion die Verwirklichung von Sozialismus und Kommunismus nach Karl Marx. Die Bücher von Arbeitern und Künstlern aus diesen Regionen machten klar, dass der realgelebte Sozialismus wenig mit dem in der Theorie beschriebenen gemein hatte. Rotbuch glaubte an die Ideale linker Politik, beleuchtete deren Praxis jedoch kritisch und selbstkritisch. An eine Sache zu glauben, dafür gemeinsam einzutreten und sie gleichzeitig von allen Seiten regelmäßig aufmerksam zu betrachten und die eigene Position darin zu reflektieren – das begeisterte mich. Ich habe es als Privileg empfunden, frei und eigenbestimmt eine Zeitspanne der Menschheitsgeschichte nacherleben zu dürfen, in der ich noch lange nicht geboren war. Archive und Gespräche geben Erinnerungen Raum und in Erinnerungsräumen wird Geschichte lebendig und erfahrbar. Dank dieser Räume, durch die ich mich bewegte, hatte ich die Möglichkeit zur Zeitreise und zum Kennenlernen von Politik- und Gesellschaftsmustern aus anderen Perspektiven.

Das Muster der hochpolitischen Jahrzehnte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist kompliziert, viele Geschichten passieren darauf. Versuche ich, all diese Geschichten auf eine einfache Formel herunterzubrechen, gelingt mir das nicht. Dem ungarischen Autor Miklós Haraszti aber ist es gelungen. Er arbeitete in der sozialistischen Traktorenfabrik Roter Stern und veröffentlichte bei Rotbuch 1975 seine Arbeiterreportage Stücklohn. Haraszti hat die kapitalistischen Arbeitsbedingungen der vermeintlich antikapitalistischen Fabrik akribisch herausgearbeitet. Die Absolutheit der Gegensätze fasst er in einem Bild zusammen:
 
Manchmal träume ich davon, daß Komponisten, die der Musik der Werkstatt besonders lange zugehört haben, schneller als andere verstehen müßten, daß jede Unterwerfung hier beginnt und daß es keine Befreiung geben kann, wenn es hier keine Befreiung gibt.
Haraszti: Stücklohn 1975, 113.

Die widersprüchliche Identität des Systems, in dem er lebt, fängt der Autor mit diesem Wortbild ein. Trotz allem: Viel Liebe liegt in diesen Zeilen. In seinem Buch bewertet Haraszti die politische Idee, nach der sein Heimatland funktioniert, als richtig, deren Umsetzung aber als falsch. Es ist unglücklich, in einem System zu leben, das sich nach außen gerichtet anders darstellt, als es nach innen gerichtet tatsächlich ist. Diktaturen sind immer gut in Marketing. Diese Erkenntnis und alle damit zusammenhängenden Lernprozesse sind in mein Langzeitgedächtnis übergegangen – in Form der akkordgetakteten Musik der Werkstatt in Budapest. Wenn eine von Menschen geschaffene Kunst wie Musik, deren Schöpfung immer und zuallererst die Fähigkeit zur Liebe voraussetzt, reguliert ist vom harten Takt der Wirtschaft, dann gibt es keine Freiheit mehr.

Systeme verstehen

Jagd auf Einhörner

Ich hatte seit der Oberstufe nebenher gejobbt, viele Jahre im Lebensmitteleinzelhandel, später als wissenschaftliche Hilfskraft, in der Hausaufgabenbetreuung einer caritativen Einrichtung als Gruppenleiterin und in der Medienbranche als freie Mitarbeiterin. Bildung begünstigt im Idealfall Transferleistung. Manchmal versuchte ich, die Schlüssel aus meinem geisteswissenschaftlichen Studium in der praktischen Arbeit anzuwenden. Besonders diejenigen aus der Germanistik erschienen mir hilfreich. Ich hatte mich spezialisiert auf die Historische Sprachwissenschaft und die Ältere deutsche Literatur (ÄdL). In Seminaren, Übungen und Vorlesungen zu Sprachwandel, Morphologie und Namenkunde zerlegten wir unsere Muttersprache und dadurch verstanden wir sie besser. Grammatik und Wortbildung sind Waffen im täglichen Gebrauch und es ist von Vorteil, den Ursprung und die Entwicklung dieser Waffen nachzuvollziehen. Sinngemäß brachte der Dichter Ernst Jandl einmal auf den Punkt: Die Rache der Sprache ist das Gedicht. Im Supermarkt aber nützten mir Gedichte nicht viel. Auch brachte es weder mir noch anderen etwas, auf die Präteritalgrenze hinzuweisen, die durchs Rhein-Main-Gebiet verläuft. Menschen auf Nahrungssuche kümmerte es nicht, dass Leute im Süden Ich bin angekommen und Leute im Norden Ich kam an sagten – viel wichtiger für sie war, die Crème fraîche zu finden. Ich verwendete meine Sprachschlüssel also erst gar nicht und griff auf meine in der ÄdL erlernten Schlüsselkompetenzen zurück.

In der Altgermanistik jagt eine Geschichte die nächste und die letzte ist gewaltiger als die erste. Dabei können so viele magische Schlüssel mitgenommen werden, dass ein Leben nicht ausreicht, um alle Türen mit ihnen zu öffnen. Hier war ich angekommen. Tumbleweeds, Clint Eastwood und Hoffnungslosigkeit waren Geschichte. Jetzt bestimmten rachsüchtige Königinnen, wilde Berserker, intrigante Königsberater und Ritterhöfe und Wunderländer den Raum. Große Heroen vernichteten Familienclans und gingen mit kühlen Worten dem eigenen Tod unaufgeregt entgegen. Mächtige Landesherrinnen schmiedeten Mordpläne und straften Männer, die sie durch Landnahme entehrt hatten. Junge Helden ritten auf Pferdchen von einer Abenteuerstation zur nächsten und kämpften gegen Drachen, um Liebesdienst zu leisten und schöne Hofdamen zu beeindrucken. Fabelwesen wie das Einhorn und Architekturfantasien wie der Graltempel gaben Wunderlichem Gestalt und waren ein Beleg für den Reichtum menschlicher Vorstellungskraft.

Gegenstand der ÄdL ist die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in der Volkssprache, darunter Heldenlieder, Heldenepos, Bibelepik, Minnesang, Artusroman und frühneuzeitlicher Prosaroman. Durch das Lesen der Texte und das Sprechen darüber konnte ich die Epoche besser verstehen. Geschichte war plötzlich spannend. Erzählungen werden im Mittelalter anders geschrieben als in der Gegenwart. Textstrukturen, Handlungsstränge, Figuren und Bilder wirken auf heutige Rezipienten fremd, ihr Aufbau und ihre Entwicklung sind ungewohnt. Protagonisten etwa verfügen nicht über die heute üblich gewordene Innerlichkeit. Der mittelalterliche Dichter nutzt Gegenstände oder die Bedingungen von Zeit und Raum, um den Zustand des Helden zu spiegeln oder sein Handeln als richtig oder falsch zu markieren. Im höfischen Ritterroman ist es immer ein gutes Zeichen, wenn Zeit und Raum für die Hauptfigur arbeiten. Falls notwendig und für die Entwicklung des Ritters zuträglich, werden Wegstrecken kürzer oder Zeit dehnt sich. Raum verschmilzt mit Zeit. In ihrem Buch über Die Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählstrukturen. Raum und Zeit im höfischen Roman zeichnet Uta Störmer-Caysa diese Prinzipien mit viel Akribie und Liebe nach. Vorstellungen von und Diskussionen über Zeit und Raum von der Antike bis zum Mittelalter bilden die Grundlage für ihre Überlegungen.

Sind die Raumzeit-Bedingungen günstig für die Hauptfigur, bedeutet das, dass sie ihrer Funktion als Held gerecht wird. Vielmehr noch: Der Held verhält sich nicht zu Zeit und Raum, sondern Raum und Zeit verhalten sich zum Helden. Damit ist der Held nicht bloß eine Figur, die sich als würdig erwiesen hat. Nach Störmer-Caysa ist der Held der Zeitgeber. Derjenige, der in einer Erzählung der mächtigste ist, taktet die Zeit.
Der Gedanke ist wichtig, um Christopher Nolans Tenet aufzuschlüsseln. Der Actionfilm aus dem Jahr 2020 behandelt das Thema um eine anders gedachte Zeit intelligent: Hier wird Kausalität umgekehrt und gleichfalls wendet sich das Bewegungsprinzip von Objekten. Eine Schusswaffe beispielsweise schießt die Kugel nicht ab, sondern fängt sie auf. Der namenlose Protagonist scheitert mehrmals bei dem Versuch, die Kausalität und damit die Zeit der Räume für seine Zwecke zu gestalten – häufig entgegen aller Logik. Die Paradoxie gipfelt in dem Kampf mit sich selbst. Denn als er sich rückwärts in der Zeit bewegt und dabei auf seinen sich vorwärts bewegenden Doppelgänger trifft, geraten beide in ein Handgemenge. Logikfehler sind in Tenet nicht von Belang. Zur Frage nach Logik gibt die Handlung keinen Anlass. Zeit und Raum werden vom Antagonisten der Erzählung getaktet. Der russische Oligarch Andrei Sator ist die mächtigste Figur und daher der Zeitgeber. Im Film verfügt er über den größten Reichtum, Geld bestimmt den Zeitfluss.

Versuchte Logik unter Zeitgebern

Die Freiheit im Denken

Die Fähigkeit zum flexiblen und kreativen Denken, die wir in der germanistischen Mediävistik durch die Beschäftigung mit fremden Epochen und Kulturen übten, hilft, die fiktiven Geschichten und realen Ereignisse der Gegenwart zu interpretieren. Wollte ich aber in der ÄdL vermittelte Schlüsselkompetenzen in meine nebenberufliche Praxis umsetzen, fand ich keine dafür notwendigen Türen. Ich schaffte es nicht, Zeitgeberin zu sein. Im Gegenteil: Die Raumzeit schien gegen mich zu arbeiten und sich zu dehnen, wenn ich kassierte, und davonzulaufen, wenn ich Tiefkühlwaren verräumte. Die Zeit im Supermarkt gehorcht ganz anderen Taktgebern. Bis heute bin ich nicht sicher, die Zeitgeber kennengelernt zu haben. Vielleicht waren sie stets ganz nah und vielleicht hatte es etwas mit der Crème fraîche zu tun. Im Lebensmitteleinzelhandel gibt es immer bestimmte Waren, die nicht gut zu finden sind. Sie entwickeln ein Eigenleben oder kehren das Prinzip ihrer Bewegung um. Außer Crème fraîche sind Schmand, Eier, Soßenbinder und Getreidesorten wie Hirse und Quinoa besonders gut darin. Wie die magischen Anderwelten im Artusroman sind auch sie schwer zugänglich. Kunden und genauso Angestellte suchen regelmäßig nach ihnen.

Zeit ist, auch deshalb, relativ.
Wer aber ist in der Erzählung über die Autofahrt mit meinem Neffen die mächtigste Figur und gibt den Takt vor? Wer ist der Zeitgeber?

Katharina Fries Bildungsreferentin Hamburg

Bildung findet überall statt. In The Green Knight habe ich Bourdieus männliche Herrschaft erst verstanden.

Bildungs-referentin in Hamburg

Heute arbeite ich als freie Referentin in der politischen Bildung. Ich veranstalte Polbinare und unternehme mit kleinen wie großen Gruppen Polbitouren in Hamburg.
In meinem Studium habe ich gelernt zu denken. Die vielen magischen Schlüssel, die ich in der Germanistik und Buchwissenschaft aufgelesen habe, trage ich bei mir. Noch habe ich nicht alle Türen gefunden; viele sehe ich erst im Austausch mit anderen. Mein Abschluss (Magistra Artium) klingt wie ein allmächtiger Zauberspruch und deshalb muss ich ihn hier noch einmal nennen. Nach meiner Studienzeit arbeitete ich einige Jahre in der Digitalbranche und war tätig im Text, Content und Marketing. Hier durfte ich kluge und zugewandte Menschen kennenlernen, die den Takt der Wirtschaft weich gestaltet haben. Ich habe mich gefreut, auf diesem Weg meinen Ausbildereignungsschein machen zu können, und bin heute bei der Hamburger Handelskammer eingetragene Ausbilderin für Marketingkommunikation. In meinem Berufsleben habe ich mit Azubis immer besonders gerne zusammengearbeitet. Oft entwickelten sie ausgeklügelte Taktiken, um die Raumzeit zu beeinflussen. Das und sehr viel mehr durfte ich von ihnen lernen.

Meine Workshops und Vorträge

Meine Polbinare und Polbitouren richten sich an sowohl Jugendliche als auch Erwachsene. Die Aufbereitung meiner Themen erfolgt stets nach den Interessenschwerpunkten und Lernzielen der Gruppe. Das heißt, die inhaltliche Gestaltung meines Angebots ist flexibel, dabei immer interdisziplinär ausgerichtet und interaktiv gestaltet. Im Mittelpunkt stehen der gemeinsame Austausch und die Übung im eigenständigen und konstruktiven kritischen Denken. In meinen Polbinaren betrachten wir den Untersuchungsgegenstand daher von allen Seiten und erarbeiten gemeinsam das ihn umgebende System. Dabei will ich sensibilisieren für eine freie Persönlichkeitsentfaltung, ein selbstkritisches Handeln und ein respektvolles Miteinander. Ich folge damit dem Humboldtschen Bildungsideal, dem Verständnis von Bildung im Sinne des Humanismus. Schreibt mir gern, wenn ihr Lust auf ein gemeinsames Forschen bekommen habt. Ich freue mich darauf, mit euch gemeinsam Erzählungen, Geschichte und Gegenwart zu erforschen. Forschen heißt immer Denken und Denken bedeutet Freiheit.


Das Wort „Freiheitsberaubung“ ist nicht ganz richtig. Wer gelernt hat zu denken, dem kann man die Freiheit niemals gänzlich rauben.

Dudinzew (1958): Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, 363.

Meine Polbinare und Touren (ง︡'-'︠)ง

polbiwärts ❤(ˆ‿ˆԅ)

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