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Katharina Fries

Igorrr – kubistisches Büffet in den Ohren

Von 8-Bit-Peitschen, Growls und grünen Chilis im Kultur Palast Hamburg

 

Igorrr Kultur Palast Hamburg

Abstract:

"I just want to make the music I love, without asking myself if it's gonna be too complex or too far from what people like. I want to make the music which has sense to me, with no restrictions, like a big party with metalheads, electronics nerds, classical and baroque-heads and gypsy violinists getting drunk and joining together to bring the best of every genre."[1]

Das ist Gautier Serre, Gründer der französischen Underground-Band Igorrr, am 6. Mai 2022 im Kultur Palast Hamburg gelungen – määhähh.


 


Endlich wieder glücklich headbangen und schnelle Blitze tanzen


Es liegt so viel Politik in der Musik. Und als Menschen mit dem Streben nach einer weltweit gerechten und friedlichen Gemeinschaft könnten wir uns freuen, liegt irgendwann ebenso viel Musik in der Politik.

Bands, die unterschiedliche Stilrichtungen nutzen, um ihre Musik lebendig werden zu lassen, sammeln oft eine bunte Fangemeinde. Es ist schön, unter den jetzt auch in Hamburg gelockerten Corona-Maßnahmen mitten unter einer großen und diversen Gruppe zu sein. Alle teilen den gleichen Ort zur gleichen Zeit wegen einer Sache: Musik. Wenn der Boden und dann der ganze Raum vibriert, gehen die Klänge wie weiche Kissen in Körper und Geist über und dämpfen Sorgen, Stress, Krankheiten und Kriege in ihrer Lautstärke. Besonders wenn es sich um harte Growls, spitzen Operngesang und extrem tempogetriebene Takte handelt, um kantige elektronische Streifen.


Am 6. Mai haben Igorrr im Kultur Palast Hamburg alles gegeben, um ihre Fans in einen Scherenschnitt experimenteller Kompositionen zu wickeln. Metaller konnten endlich wieder glücklich headbangen oder crowdsurfen, Breakcore-Fans schnelle Blitze tanzen. Igorrr ist 2005 als Soloprojekt des französischen Musikers Gautier Serre gegründet worden und 2017 zu einer Band mit drei weiteren Mitgliedern gewachsen: Laurent Lunoir (Gesang), Laure Le Prunenec (Gesang) und Sylvain Bouvier (Schlagzeug); seit 2021 mit JB Le Bail und Aphrodite Patoulidou anstelle von Laurent und Laure und mit Martyn Clement als Gitarristen. Namensgeber ist die verstorbene Wüstenrennmaus des Gründers. Der schwarze Nager war Gautiers Begleiter in Jugendjahren und hatte offenbar Ähnlichkeit mit Graf Draculas buckligem Diener Igor, sobald er auf zwei Beinen stand. Gautier wollte seiner Maus Tribut zollen, indem er sein erstes eigenes musikalisches Projekt nach ihr benannte.[2] Dasjenige Projekt, in dem der hochtalentierte Musiker die kreative Freiheit fand, die er zuvor in anderen Musikgruppen vergeblich gesucht hatte:


Zitat:

It was around 2004–2005 when I had several groups. Whenever I had an idea or a composition, I had to consult with other people to know if it was good, not good, etc... and it annoyed me a bit. I wanted to have something for myself where I would be the only person to make that kind of decision. I was looking for a specific style of music, but I could not find what I wanted because it did not exist. The goal was that I wanted to have a CD, put it in the player and hear exactly what I wanted to hear.[3]





Winzige Klaviere auf kubistischen Soundteppichen


Mit Igorrr ist Gautier Schöpfer einer Musik geworden, die von vielfältigen Stilen und Einsprengseln geprägt und inspiriert ist, darunter Black, Death, Progressive und Industrial Metal, Breakcore, Trip Hop, Folkmusik aus dem Balkan und Klassische Musik, insbesondere Barock. Der Soundteppich ist mit elektrischen Nadeln gestrickt. Igorrr fordert Aufmerksamkeit und Konzentration. Wer die Kombination aus Schlagzeug, E-Bass, E-Gitarre, Klassischer Gitarre, Klavier, Drum Machine, Akkordeon, Mandoline, Cembalo, Sitar, Saxophon, Blockflöte, Streichinstrumente, Operngesang und Growls als intelligentes und stimmiges Zusammenspiel und nicht als zufälligen Krach wahrnehmen will, muss offen sein und zuhören. Geschmack ist relativ, gefallen müssen Igorrr nicht. Der hochkreative künstlerische Akt der französischen Underground-Band aber ist unverkennbar. Bemerkenswert außerdem Gautiers Begeisterung für ein Musizieren auf Haushaltsgegenständen und Arbeitsgeräten und seine merkwürdige Vorliebe für Hühner und winzige Klaviere. Hört man einige Igorrr-Alben, wundert man sich über gar nichts mehr. Auch eine Ziege, die zwischen Drumstick-Attacken mäht, nimmt man gelassen hin. Igorrr sind Eskalationsmanagement auf höchster Ebene und empfehlenswert für jeden, der unangenehmen Gesprächen mit Vermieterinnen, Arbeitgebern oder Kundinnen ängstlich gegenübersteht. Dabei ist das musikalische Potpourri kein Genre, vielmehr ist es Gautiers persönlicher Geschmack. Gewissermaßen ist Igorrr die Vertonung seiner Person und diesem Prozess sollen keine Grenzen gesetzt werden. In einem Interview mit kulturnews im Jahr 2020 stellt Gautier heraus, er liebe die Musikrichtungen und die Stimmungen, die daraus entstehen und miteinander kontrastieren. Denn die Kontraste geben einer Freiheit Raum, unter der seine Musik jederzeit eine andere Entwicklung nehmen kann.[4]


Sein künstlerischer Antrieb ähnelt dem der Kubisten. Auch ihnen war die Vielzahl an Möglichkeiten wichtig, ihre Kunst neu zu denken, zu erproben und weiterzuentwickeln. Raum und Gestalt sollten neugegliedert werden. Die Neugliederung auf der Leinwand setzte die Zergliederung derselben voraus. Pablo Picasso als maßgebender Begründer des Kubismus etwa betonte: Der Kubismus hat plastische Ziele. Wir sehen darin nur ein Mittel, das auszudrücken, was wir mit dem Auge und dem Geist wahrnehmen, unter Ausnützung der ganzen Möglichkeiten, die in den wesenhaften Eigenschaften von Zeichnung und Farbe liegen. Das wurde uns eine Quelle unerwarteter Freuden, eine Quelle der Entdeckungen.[5]


Picassos Kunst war der konzeptionelle Bruch mit den in der Spätrenaissance entwickelten Gestaltungsmitteln in Grafik und Malerei. Den Hell-Dunkel-Kontrast verwarf er, ebenso die traditionelle Perspektive, den eingeübten Pinselstrich. Durch die Aufhebung dessen, was der Künstler mit dem Auge wahrnehmen konnte, schuf er ein Universum an Möglichkeiten für Zeichnung und Farbe. Den seit jeher zugriffsgeschützten Gestalten und Formen gab er Freiheit, unter seinem Zugriffsschutz. Das heißt, im Kubismus ist ein menschlicher Körper kein Körper mehr, wie wir ihn kennen. Er ist seine alternative Realität, seine kubistische Zerstückelung. Interessanterweise folgt der Freiheit im künstlerischen Schaffensprozess die Unfreiheit des Motivs.



Freude im Raum der Abstraktion


Betrachte ich zum Beispiel Picassos Die weinende Frau, die er 1937 mit Öl auf Leinwand nahm, erkenne ich keine Freiheit und nichts, was damit zusammenhängt – noch bevor ich von dem Zusammenhang zwischen Gemälde und Entstehungskontext, den Wirkungen des Spanischen Bürgerkrieges weiß. Erkennbar ist der destruierte Teil eines menschlichen Körpers, der Kopf einer Frau, der zusammen mit der emotionalen Mimik gebannt ist in Abstrakta. Abstrakta, die vertraut wirken und dennoch Formen bilden, die fremd, spitz, kantig und geschlossen sind, einen Ausweg nicht bieten. Angeordnet wie splitterndes Kirchenfensterglas, das die Wiedervereinigung der Stücke versagt. Eine ehemals erreich- und verstehbare Gestalt. Eine Identität, eine Emotion, die jetzt aus vielen Einzelteilen besteht und die einander fremd und interesselos gegenüberliegen. Wie eine Twitter-Timeline ist die weinende Frau gegossen in eine Form, die äußerlich vollständig ist und inhaltlich unzusammenhängend verläuft. Gesichtspartien, die nicht miteinander konform gehen, Posts, die nicht aufeinander reagieren, nicht interagieren. In der Mitte des Gemäldes der Mund in blassen Tönen abgesetzt, tränenblau. Als blichen ihre Tränen die Farbe der Sprache.





Wir sehen uns das kubistische Bild aus einer zusätzlichen Perspektive an, bevor wir über einen anderen Weg zu Igorrr zurückkehren und in den Sound gehen. In dem computeranimierten Film Alles steht Kopf (engl.: Inside Out) gibt es einen Raum der Abstraktion, den abstract thought. Er befindet sich inmitten der Innenwelt der elfjährigen Riley, die Hauptfigur der Handlung. Der von Pixar 2015 veröffentlichte Film erzählt davon, wie Riley mit ihren Eltern von Minnesota nach San Francisco zieht und den plötzlichen Verlust ihrer Heimat verwindet. Der Erzählfokus ist gelenkt auf das Treiben in ihrem Kopf und diese innere Welt ist ideenreich und hochkreativ dargestellt. Hier gibt es eine Kommandozentrale, in der fünf Figuren das emotionale Dasein von Riley bestimmen: Freude, Kummer, Wut, Angst und Ekel. Sie verwalten Erinnerungskugeln, schützen Kernerinnerungen, halten Persönlichkeitsinseln in Betrieb, entwickeln Entscheidungs-Glühbirnen und bedienen ein Schaltpult für die direkte emotionale Reaktion nach außen. Freude führt die Gruppe an. Sie ist eine funkensprühende, lebhafte Figur mit hellem Körper und feuerblauen Haaren. Kummer ist klein, rund, himmelblau und die meiste Zeit zum Nichtstun abgestellt. Wut ist kastig, männlich, rot, trägt Krawatte und Hemd und sein Kopf spuckt Flammen, regt er sich auf. Angst ist lang, dünn, blasslila, trägt Hemd und Pullunder. Ekel ist grün, weiblich und Typ coole Pausenhof-Clique. Nach einigen Turbulenzen und Fehlgriffen werden Freude und Kummer versehentlich aus der Kommandozentrale katapultiert und landen im Langzeitgedächtnis von Riley, einem Gewirr aus meterhohen Regalwänden. Auf der Suche nach einem Rückweg finden sie Rileys vergessen geglaubten Fantasiefreund Bing Bong, der sie durch eine Abkürzung führen will: den Raum der Abstraktion. Die drei Figuren merken schnell, dass das nicht die beste Idee war. Ihre Körper werden vom Raum abstrahiert, in vier Stufen: nicht-gegenständliche Fragmentierung, Dekonstruktion, Zweidimensionalität, nicht-figürliche Transformation – sie werden zu Form und Farbe.


Ein in jeder Hinsicht herausragender Moment. Wir sehen drei sich zerstreuende Figuren, die auf eine Tür zulaufen, um das dahinter liegende Ziel zu erreichen. Dann das plötzliche Wegvakuumieren der dritten Dimension. Die Tiefe des Raumes schwindet. Tür und Figuren befindet sich jetzt auf einer Ebene. Die Fortbewegung ihrer Körper Richtung Raumtiefe hat keinen Effekt mehr und sie rennen auf der Stelle. Obwohl die Tür auf der gleichen Ebene wie die geometrischen Figuren verortet und ihnen damit näher ist, ist der Ausweg ferner als zuvor. Auf Zweidimensionalität heruntergebrochener Raum ist kein Raum mehr, sondern Fläche. Und auf Flächen verlaufen Wege anders als in Räumen, sie erfordern eine andere Art der Fortbewegung. Kummer als blauer Strich bemerkt das zuerst. Sie hört auf zu rennen, lässt sich hinfallen. Wie in einem Snake-Game robbt sie durch den Exit. Zuletzt gelangen alle in vollständig abstrahiertem Zustand schneller in den Außenbereich, als es ihnen in ursprünglicher Gestalt gelungen wäre. Das heißt: In diesem Fall hat die Zergliederung, die Abstraktion von runden, geschwungenen Körpern hin zu kantigen, geschlossenen Formen zur Freiwerdung geführt.



Neue Möglichkeiten: Plastikgartenstühle zergliedern und neugedenken


Dora Maar, die französische Fotografin und eine von vielen Geliebten und Musen Picassos, diente als Motiv für Die weinende Frau. Sie war mit diesem und anderen Porträts, die ihr Lover von ihr anfertigte, nicht einverstanden. Sie mochte sie nicht. Ihrer Meinung nach zeigten die Bilder nicht sie, sondern die Version, die der spanische Künstler von ihr hatte. Nach dem Pixar-Ritt durch den Raum der Abstraktion kommt es mir vor, als habe Picasso seiner Geliebten einen Ausweg schenken wollen. Er selbst hat die kubistische Darstellung, die gesplitterten Gesichtspartien, die vielen voneinander abgewandten Linien und die Schieflagen vielleicht gar nicht als geschlossene, unfreie Elemente wahrgenommen. Sondern er dachte womöglich, er könne den Emotionen seiner Dora Maar einen Exit bieten. Indem er Form und Farbe aus ihnen macht und sie auf zweidimensionaler Fläche anordnet, die Komplexität des Raumes nicht zulässt. Die Tränen der weinenden Frau müssten bloß etwas hochspringen, sich hinfallen lassen und könnten dann in die Augen zurückkehren und Ruhe finden. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die unter der Franco-Diktatur stattfanden, und die Schatten der Blauen Division lägen dann nicht so schwer und unversöhnlich in den Gesichtszügen seiner Liebe. Bloß eine andere Art der Fortbewegung hätten die geometrischen Körper wählen müssen.





Dass Abstraktion Wege aufzeigt und Lösungen freilegt, sehen wir an einem weiteren Beispiel: dem Monobloc. Ein einfacher Gartenstuhl, glattes, oft weißes Plastik. Er ist überall zu sehen, achtet man darauf. In Vorgärten, auf Balkonen, Festivals, vor Kiosks, Eisdielen, manchmal in Bäumen. Ich hatte nie über Monoblocs nachgedacht. Auf mich wirken die Gartenstühle wie 8-Bit-Grafiken, die versehentlich dreidimensional geworden sind, weil Mario und Luigi keine Lust hatten, vor der Eisdiele sitzen zu bleiben. Das Sitzen darin kam mir immer vor wie ein Rutsch in einer unendlich gewordenen Eierschale. Ist man auf einer Gartenparty mit Monoblocs, ist erfahrungsgemäß klar: Irgendetwas stimmt hier nicht. Der 2021 von Hauke Wendler herausgebrachte Dokumentarfilm Monobloc weitet den enggeführten westlichen Blick auf den Billiggartenstuhl und schafft Perspektivbewusstsein. Ohne belehrend oder fordernd zu sein, sich selbst zu ernst zu nehmen. Die Dokumentation veranschaulicht die gesellschaftliche Einpassung des weltweit meistverkauften Möbelstücks. Dabei ändert sich die Wahrnehmung je nach Ländergrenze. In Hamburg etwa empfinden Passantinnen und Passanten den Gartenstuhl als hässlich, instabil, umweltschädlich und überflüssig. In Uganda dagegen ist er eine wichtige Ressource für den Bau von Rollstühlen. Der Monobloc macht die Unterschiede zwischen dem Westen und dem globalen Süden deutlich. Polypropylen hat für Reiche eine andere Bedeutung als für Arme.


Zitat:

Uns fehlen hier viele Dinge. Deshalb haben wir in Afrika und in Uganda eine Sache gelernt. Das Leben endet nicht, wenn Du keinen Strom hast. Das Leben endet nicht, wenn dein Kühlschrank nicht voll ist. Und es endet auch nicht, wenn Du in einem Rollstuhl sitzt, der mit einem Plastikstuhl gemacht wurde.[6] Projektleiter, Free Wheelchair Mission


Viele körperlich behinderte Menschen in Uganda können sich nur deshalb wieder fortbewegen, weil die Non-Profit-Organisation Free Wheelchair Mission die Monoblocs nutzt, um billige Rollstühle herzustellen. Ein abstract thought. Beide Stühle dekonstruiert in einem Raum sind zusammengenommen die Lösung für eine andere Art der Vorwärtsbewegung. Und diese neue Lösung erinnert an ein kubistisches Werk. Wie das Gesicht der weinenden Frau ist der Rollstuhl gesplittet, die Mitte hat eine andere Farbe, bildet einen eigenen geschlossenen Raum.





Büfett der Farben: Black Metal, Barock und 8-Bit auf grünen Kopfchilis


Igorrrs Schaffensprozess ist ähnlich und Gautier selbst hat ein passendes Bild für die Komposition seiner Musik gefunden. Er teilt das Streben der Kubisten nach künstlerischer Freiheit, nach einer Kunst ohne Grenzen. Aber er nimmt nichts Vorhandenes aus nur einer Form, zergliedert es und beginnt mit einer würfelförmigen Neuordnung. Im Metal oder der Barockmusik allein sieht er dementsprechend wenig Entwicklungspotenzial. Für ihn können nur dann ständig neue Soundflächen geschaffen werden, nimmt er Rhythmen und Instrumente aus vielen unterschiedlichen Musikstilen und Kulturen. Er lässt sie miteinander verschmelzen und Noten ineinander übergehen, er kocht:


kulturnews: Du vergleichst Musik gerne mit Essen – um mit Vorurteilen zu spielen, Frankreich ist natürlich bekannt für Baguette, Käse und Wein. Wäre Igorrr essbar, was würde dann am Teller liegen?

Gautier Serre: Ich glaube, das wäre kein Teller, sondern ein riesiges Buffet, so wie im Film „Das große Fressen“ von Marco Ferreri, Rafael Azcona und Francis Blanche (lacht).[7]


Wie ein Koch die Geschmacksnoten eines guten Essens zu orchestrieren weiß, weiß Gautier alle musikalischen Zusätze aufeinander abzustimmen und richtet die Struktur seiner Werke auf gelingende Gegensätze aus. Schwere und Verspieltes harmonieren durch die Kombination von Death Metal und 8-Bit-Musik, Stille blüht nach Lautstärke, nahöstliche Instrumentalbegleitung wächst neben klassischer. Dabei achtet er auf die richtige Farbzusammenstellung seines Büffets. Klänge sind in der Wahrnehmung des französischen Musikers mit Farben verknüpft; diejenigen von Schlagzeuger, Akkordeonist oder Gitarrist arrangiert er nach einem Farbschema, das stimmig auf ihn wirkt. Wichtig ist die vielfarbige und damit emotional breite Komposition: Sich nur in einer einzigen Emotion zu verstricken, ist für mich sehr langweilig; das Leben ist eine große Bandbreite an Emotionen – manchmal ist man glücklich, manchmal traurig, wütend, sauer, nostalgisch oder wie weggeblasen. Das Leben ist nicht nur eine Farbe.[8] Die akribisch, bis ins Detail destillierten Farbkompositionen benötigen Zeit. Dem 2017 von Igorrr herausgebrachtem Album Savage Sinusoid etwa gingen fünfjährige Aufnahmen voraus. Die Arrangements sind komplex. Auch beim 2020 veröffentlichten Spirituality and Distortion, das Namensgeber der aktuellen Europatournee ist, war die Produktion schwierig:


Zitat:

„Komplizierter“ [als vorherige Produktionen] trifft es nicht. Es war die Hölle! Das wünsche ich echt niemandem. Ich habe mit so vielen unterschiedlichen Leuten gearbeitet, die alle aus unterschiedlichen Kulturen kommen, unterschiedliche Sprachen sprechen und auch in unterschiedlichen musikalischen Sprachen arbeiten. Manche von ihnen arbeiten ja nicht mal in demselben Notensystem. Zum einen habe ich zwar den Überblick über das große Ganze, aber auf einem Album wie diesem wird die Arbeit schnell sehr kleinteilig. Dem Sitar-Spieler zu vermitteln, was du von ihm willst, wenn seine Noten ganz anders heißen als die des Death-Metal-Gitarristen, und sich beide Musiker in ganz anderen Kontexten bewegen, das ist eine große Herausforderung.[9]


Wer schon einige Bilder und Studioaufnahmen von Irorrr gesehen hat, vermutet Gautier Serre während der Einspielungen vielleicht schwebend über den Dingen. Inmitten von Kreissägen, Schweißgeräten, Instrumenten, flirrenden Vocals und wild gestikulierenden Musikern und Künstlerinnen. Mit grünen Chilis auf dem Kopf und einem schwarzen Huhn im Arm dirigiert er das Chaos hin zu einem klangstarken, kubistischen Büffet. Der sympathische Eigenhumor der Band und das kluge und charmante Spiel mit Genreklischees täuscht nicht hinweg über die Intensität und Hingabe, die Kunstfertigkeit der Lieder. Beispiellos eskaliert die Bandbreite des musikalischen Potenzials im Opus magnum des Albums, Himalaya Massive Ritual.





Für eine bessere Welt


Wer Himalaya Massive Ritual hört, versteht, wozu Menschen im Stande sind. Begreift, welchen Klang das Zusammenspiel unterschiedlicher Talente und Fähigkeiten hat, welche Form die mit Geduld, Aufmerksamkeit, Mut und Liebe dirigierte Kollektivarbeit annimmt. Tonsprünge und Klangschichten, angeordnet wie das Faltengebirge des Himalaya. Ein Ort der Gegensätze, hier gibt es den höchstgelegenen und tiefstgelegenen Punkt trockener Erde, wachsende Berge, rutschendes Land. Im Song zeichnen E-Gitarrenriffe Gebirgsumrisse nach und klassische Gitarren malen ihre Oberflächen aus. Die Sitar schlichtet den Zusammenstoß der Kontinentalplatten und die Violine streicht den Dark Passenger, den Widerpart, aus der Erdmasse hervor. Drums, Operngesang und Chorusschichten beschreiben übereinandergelegt die vielfältigen Klimazonen und am höchsten Punkt passieren kalte Winter. Und wenn zuletzt ein völlig neues Instrument aus einer Gasflasche kreativ entsteht und allen Klangfarben einen Puls und Lebensfunken gibt, dann haben Igorrr dem höchsten Gebirge der Welt ein anderes Leben in einer anderen Sprache geschenkt. Die Farben des Himalaya, das Blau und Weiß von Himmel, Wasser und Schnee, das Rot, Grün, Gelb und Orange von Blumen, Pflanzen, Erde und noch so viel mehr Nuancen haben sie vertont. Sie haben ein Stück Welt genommen, ohne es zu nehmen, sie haben ein Stück Land zu ihrem gemacht, ohne es ihres werden zu lassen. Das hat gedauert und dennoch waren sie sehr viel schneller in ihrem Schaffensprozess als die Erde selbst.


Es ist beeindruckend, zu was Menschen im Stande sind. Und manchmal wünsche ich mir, wir würden öfter darüber sprechen. Gautier sieht Igorrr nicht als politische Band. Doch seine Vorgehensweise ist hochpolitisch. Denn er orchestriert unterschiedliche Kulturen, Perspektiven, Sprachen, Talente, Bedarfe und Denksysteme. Das ist ein hochanstrengender Akt, der unter dem steten Versuch nach Weiter- und Neuentwicklung zu einer aufreibenden und manchmal dehnenden Vorwärtsbewegung wird.


Für uns alle wünsche ich mir mehr Musik in der Politik. Mehr Musiker, die Neues gemeinsam schaffen, mehr Komponistinnen, die vielinstrumental denken und handeln. Mehr Freude und Kummer, die einander ausbalancieren und immer eine Lösung finden. Denn zusammen sind sie flexibel, wenn die Perspektive wechselt. Ich wünsche mir mehr Kunstwerke, die vergangene Schatten vergessen machen, und mehr Zeit, sie anzusehen. Mehr abstract thought und klug verbaute 8-Bit-Grafiken oder -Melodien, ein Offensein für andere Klang- und Farbräume. Mehr Hinwendung zu Freundschaft zwischen Welt und Mensch. Ganz viel von all dem haben wir schon oder hatten wir einmal.

Für alles weitere, alles, was wir haben werden, geben uns Sängerinnen Hilfe. Sie kennen gesunde Aufwärtsstrategien. Alissa White-Gluz, Lead-Sängerin der schwedischen Melodic-Death-Metal-Band Arch Enemy, empfiehlt in einem YouTube-Video fünf Übungen:

#1: Hum on „NG“

#2: Yawn

#3: Breathwork

#4: Sirens

#5 Lip Trill


Zitat:

You gotta respect your body.

Your body is your instrument.

And you need that instrument to continue playing metal.

Alissa White-Gluz, Arch Enemy

 


Quellen:

[1] Metal Blade Records: IGORRR launches video for new track, ‘Cheval’, Artikel vom 06.06.2017. Online: https://www.metalblade.com/europe/news/igorrr-launches-video-for-new-track-cheval/ [11.05.2022]. [2] Baumgartner, Stephan: Igorrr: Zwischen Genie und Wahnsinn, Interview vom 02.11.2017. In: Oeticket; online: https://service.oeticket.com/igorrr-zwischen-genie-und-wahnsinn/ [11.05.2022]. Im Folgenden abgekürzt: Oeticket: Genie. [3] Duke, Raoul and Suicyco (10 January 2011). "A L 'Arrache interview: Igorrr". A L 'Arrache (in French). Archived from the original on 21 November 2016. Zit. n. Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Igorrr#cite_note-early-1 [11.05.2022].

[4] Vgl. Jonah, Lara: Igorrr: Gegen die Eintönigkeit des Metals, Interview vom 27.02.2020. In: kulturnews; online: https://kulturnews.de/igorrr-im-interview-zu-spirituality-and-distortion/ [11.05.2022]. Im Folgenden abgekürzt: kulturnews: Gegen die Eintönigkeit.

[5] Patrick O’Brian: Pablo Picasso. Eine Biographie. Ullstein, Frankfurt/M/ Berlin/ Wien 1982, S. 216–217. Zit. n. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Kubismus [11.05.2022].

[6] Müller, Walli: "Monobloc": Humorvolle Doku über das meistverkaufte Möbelstück, Filmrezension vom 26.01.2022. In: NDR kultur; online: https://www.ndr.de/kultur/film/tipps/Monobloc-Humorvolle-Doku-ueber-das-meistverkaufte-Moebelstueck,monoblocfilm100.html [11.05.2022].

[7] Oeticket: Genie.

[8] Biografie "Igorrr". In: laut.de, online: https://www.laut.de/Igorrr [11.05.2022].

[9] kulturnews: Gegen die Eintönigkeit.



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