Koloniale Strukturen der EU-Politik überwinden. Bericht über eine Veranstaltung mit Expert:innen

Abstract:
Die EU hat einen guten Ruf. Sie gilt als Friedensprojekt. Aber ihre Außenpolitik gegenüber den Ländern des globalen Südens ist von eigenen Vorteilen bestimmt und richtet unter anderem in Afrika viel Schaden an. Bäuerliche und handwerkliche Betriebe werden ruiniert, die Menschen an den Küsten leiden infolge der EU-Fischereiabkommen unter der Überfischung, und rücksichtsloser Rohstoffabbau zerstört einheimisches Leben. Mit diesen Problemen und mit Alternativen beschäftigte sich am 23. Mai 2024 die Veranstaltung "Alternativen zur neokolonialen Handelspolitik der EU in Afrika" der AG Welthandel und Entwicklung (Die Linke) in Hamburg. Die Veranstaltung ist auf YouTube zu finden.
Strukturen des Kolonialismus
Die AG Welthandel und Entwicklung (Die Linke) hatte am 23. Mai 2024 in Hamburg Expert:innen zum Thema Handelsbeziehungen der Europäischen Union (EU) mit den Ländern des globalen Südens eingeladen. Sie sprachen zunächst je 10 Minuten zum Thema und beantworteten dann Fragen. Vor Ort diskutierten:
Gertrud Falk, Mitarbeiterin FIAN (Food First Informations- und Aktionsnetzwerk)
Thomas Fritz, Mitarbeiter PowerShift (Verein für ökologisch-solidarische Energie- und Weltwirtschaft), Experte für den Themenbereich Handel und Nachhaltigkeit sowie Lieferketten
Africa Kiiza, PhD Fellow, Universität Hamburg. International Trade and Investment Policy Research and Analysis
Helmut Scholz, Mitglied des Europaparlaments (Die Linke)
Moderator:innen: Azul Lebrija-Castillo und Dr. Hermann Kaienburg
Hermann Kaienburg (AG Welthandel und Entwicklung) begründete zu Beginn, warum die Politik der EU als „neokolonial“ zu bezeichnen ist. Es falle auf, dass die ungleiche Verteilung von Lebenschancen heute oft entlang derselben Linien verlaufe wie vor hundert Jahren: Am Anfang der Wertschöpfungsketten stehen Menschen, die trotz harter Arbeit nur mühsam ihren Lebensunterhalt sichern können, oft wenig Lohn erhalten und kaum gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfälle und Altersarmut abgesichert sind. In den Industrieländern dagegen werden Waren in immer kürzerem Takt konsumiert und weggeworfen.
Kaienburg wies darauf hin, dass dies früher auch so war. Er erläuterte das mit Hilfe eines alten Schaubildes, das die Vorzüge des Kolonialismus anpreist (s. Abbildung): Die Kolonialmächte investierten in Kolonien, um dort die billigen Arbeitskräfte zur Gewinnung von Rohstoffen (Agrarprodukte, Bodenschätze u.a.) zu nutzen. Diese wurden in den „Mutterländern“ verarbeitet. Durch den Export von Fertigprodukten in die Kolonien ließen sich wiederum hohe Gewinne erzielen. Diese Arbeitsteilung dominiert in den Beziehungen vieler Industrieländer zum globalen Süden bis heute. Dies verdeutlichte Thomas Fritz am Beispiel der Economic Partnership Agreements.

Erzwungene Verträge schaden der Entwicklung der afrikanischen Staaten
Thomas Fritz hat sich ausführlich mit den Economic Partnership Agreements (EPA) befasst, die die EU in den vergangenen Jahren oft gegen lange Widerstände mit den meisten afrikanischen Ländern abschloss. Bei diesen Verträgen handelt es sich vor allem um Freihandelsabkommen. Bei Freihandelsabkommen verzichten beide Seiten beim Im- und Export auf Zölle. Fritz betonte, dass sich in den EPA die alten kolonialen Strukturen widerspiegeln. Weil die in Afrika hergestellten Produkte nur selten konkurrenzfähig gegenüber den industriell hergestellten Produkten der EU sind, führen die EPA zum Ruin vieler afrikanischer Wirtschaftsbetriebe. Der Export dieser Länder ist daher vor allem auf die Rohstofflieferung konzentriert. Um den Wohlstand zu erhöhen, wäre es nötig, die Weiterverarbeitung nicht den Industrieländern zu überlassen. Um einen größeren Teil der Wertschöpfungsketten zu übernehmen, wären Schutzzölle erforderlich. Dies wird durch die EPA verhindert. Ländern wie Japan, Südkorea und China ist es gelungen, durch Schutz junger Wirtschaftszweige und durch Übernahme technischen Know-hows, meist durch Joint-Ventures (gemeinschaftlichen Unternehmen aus weniger und aus stärker entwickelten Ländern), in großem Umfang eine eigene Industrie aufzubauen. Dies wird in Afrika in den letzten Jahren zunehmend durch EPA verhindert, die festlegen, dass kein Staat Joint-Ventures zur Bedingung von Investitionen machen darf. Außerdem wird den Ländern des globalen Südens zunehmend der Abschluss von Vereinbarungen zum Schutz geistigen Eigentums aufgenötigt (zum Beispiel TRIPS)[1]; auch dies verhindert den Transfer technischen und methodischen Wissens.
Kicking away the ladder:
Als „Kicking away the ladder“ (die Leiter wegstoßen) bezeichnen Entwicklungsökonomen die Strategie von Industrieländern, die Entwicklung wirtschaftlich schwächerer Länder so zu behindern, dass diese nicht die Stufen zu mehr Wohlstand hochklettern können.
Konzerne aus Industrieländern beuten Rohstoffe ohne Rücksicht auf Menschenrechte aus
Auch Gertrud Falk hob hervor, dass koloniale Strukturen in den Beziehungen zwischen der EU und afrikanischen Staaten unübersehbar seien. Sie berichtete über zwei Fälle von Menschenrechtsverletzungen unter deutscher Beteiligung:
2001 schloss ein Hamburger Kaffeekonzern mit der Regierung Ugandas einen Vertrag, in dem ihm ca. 2500 Hektar Land für eine Kaffeeplantage übertragen wurden, obwohl auf diesem Land viele Kleinbauern bereits seit Jahrzehnten Kaffee anbauten – allerdings ohne Eigentumsnachweis. Die Regierung ließ in vier Dörfern ca. 4000 Bewohner:innen brutal vertreiben und ihre Häuser plattwalzen und anzünden, ohne ihnen eine Alternative anzubieten. Die Plantage produziert inzwischen viel Kaffee, der in die ganze Welt exportiert wird. Die Vertriebenen streiten bis heute um Entschädigung vor Gericht.
Ein Bergbauunternehmen in Guinea (Westafrika), das zur Hälfte der Regierung und zur anderen Hälfte drei multinationalen Konzernen gehört, erhielt für die Erweiterung einer Bauxitmine von der Bank IngDiba 2016 einen Kredit, den die deutsche Regierung versicherte, und zwar unter der Bedingung, dass 15% des Bauxits (Rohstoff für die Aluminiumherstellung) nach Deutschland exportiert werden. Trotz Warnungen der Weltbank machte die Regierung keine Auflagen zur Einhaltung von Menschenrechten und Umwelt. In dem Konzessionsgebiet befinden sich 20 Dörfer, die überwiegend von der Landwirtschaft leben. Der Bergbau zerstört inzwischen die Wasserressourcen der gesamten Region. Agrarland wird beseitigt und Wälder abgeholzt, ohne den Bewohner:innen neue Existenzmöglichkeiten zu schaffen.
Die Staaten Afrikas müssen ihren Weg selbst bestimmen
Helmut Scholz betonte, dass die Staaten Afrikas ihren Weg selbst bestimmen müssen. Eine verbesserte Aussicht dazu sieht er in der Schaffung der Gesamtafrikanischen Freihandelszone (African Comprehensive Free Trade Area, ACFTA). Dabei geht es um eine grundsätzliche Auseinandersetzung darum, welche Wirtschaftsordnung erfolgversprechender ist: die liberale Ordnung der westlichen Industrieländer, die diese mit ihren Instrumenten Weltbank und Internationalem Währungsfonds per Kreditvergabe zu ihren Bedingungen (Privatisierung der Wirtschaft, Freihandel, geringe staatliche Befugnisse) durchzusetzen versuchen, oder – als entgegengesetzter Pol möglicher Wege – eine stark staatlich gesteuerte Wirtschaft wie in China. Scholz forderte Verträge, die in erster Linie am Nutzen der Länder des globalen Südens ausgerichtet sind. Mit Sorge erfülle ihn, dass die USA immer stärker dazu übergehen, gar keine Verträge mehr einzugehen, sondern einfach auf das „Recht des Stärkeren“ zu setzen.
Africa Kiiza beklagte, die EU-Politik gegenüber Afrika sei nach wie vor von Paternalismus bestimmt; denn sie gehe davon aus, dass man in Europa besser weiß was für Afrika gut ist als die Afrikaner selbst. In Wirklichkeit werde aber nichts grundlegend geändert. Auch begrüßenswerte Ansätze wie Fairtrade, die Lieferkettengesetze und die neuen Projekte der Energiegewinnung seien im Grunde paternalistisch. Dass immer mehr Afrikaner:innen Arbeit in Europa suchen, so Kiiza, sei Folge verfehlter wirtschaftlicher Entwicklung, die auf dem EU-Interesse an Rohstoffen gründe. Verträge sicherten die Beibehaltung des Status-quo. Die Preise für Rohstoffe, z. B. für Kakao und Kaffee, werden nach wie vor an den Börsen von London und New York festgelegt und sind von Spekulationen der Finanzmärkte abhängig. Die Migrationsfrage ist nach seiner Auffassung nur lösbar, wenn die afrikanischen Staaten einen größeren Anteil an den Wertschöpfungsketten aufbauen. Einige Länder, zum Beispiel Südafrika, haben versucht, Bedingungen für Investitionen aus den Industrieländern zu stellen, sind damit aber nicht weit gekommen.
Was muss anders werden?
Entgegen den Social Development Goals der UN hat in vielen Ländern die Armut in den vergangenen Jahren wieder zugenommen. Infolgedessen machen sich viele Afrikaner:innen trotz der großen Gefahren auf den Weg nach Europa, um dort Arbeit zu suchen. Was muss geschehen, damit in den Ländern des globalen Südens der Aufbruch zu mehr Wohlstand gelingt?
Zunächst ist klarzustellen: Die Menschen in Afrika müssen ihren Weg selbst bestimmen. Ihnen dürfen keine Lösungen aufgezwungen werden. Sie müssen dabei, wie Helmut Scholz unter Berufung auf den senegalesischen Ökonomen und Philosophen Felwine Sarr hervorhob, viele eigene Probleme lösen, etwa: Müssen sie unbedingt dem materiellen Wohlstandsverständnis des Westens folgen? Wie können traditionelle Verhaltens- und Denkweisen, die ein gleichberechtigtes menschenwürdiges Zusammenleben verhindern, zum Beispiel Stammesschranken, überwunden werden? Sie sollten außerdem darauf achten, dass sie nicht dieselben Fehler begehen, die die jetzigen Industrieländer gemacht haben, z. B. die extensive Ausbeutung zur Zeit der Frühindustrialisierung oder den Irrweg der fossilen Energiegewinnung.
Ein großer Teil der Probleme in Afrika werden jedoch durch die dominierende Rolle der Industrieländer verursacht. In der gegenwärtigen Entwicklung spiegelt sich vor allem die Macht großer internationaler Konzerne wider. In der Veranstaltung wurde deutlich: Ihre Jagd nach billigen Rohstoffen ist eine der Hauptursachen für die EU-Politik, zum Beispiel in Gestalt der EPA. Die Spekulation mit Lebensmitteln auf den Finanzmärkten führt zu großen Problemen und oft zu Hunger und Unterernährung in afrikanischen Ländern. Ihr Pochen auf Patentrechte und andere geistige Eigentumsrechte, zum Beispiel beim Saatgut, ihr Streben nach Anlage möglichst großflächiger Landwirtschaftsplantagen, ihre rücksichtslosen Methoden beim Abbau von Bodenschätzen und andere Vorgehensweisen haben die Lebensverhältnisse in vielen afrikanischen Ländern verschlechtert. All dies muss sich ändern.
Wie können wir in Europa für gerchtere Verhältnisse kämpfen?
Stattdessen sollten – so der Rat der Experten:innen – engagierte Menschen in Europa alle afrikanischen Initiativen, Verbände und Bewegungen unterstützen, die für menschlichere Lebensverhältnisse kämpfen. Auf Regierungen ist nicht immer Verlass. Für Erfolge auf dem Weg zu mehr Wohlstand sind starke, handlungsfähige Regierungen erforderlich. Leider gibt es in vielen Ländern, wie Thomas Fritz es formulierte, kleptokratische Beziehungen zwischen ausländischen Unternehmen und mächtigen gesellschaftlichen Gruppen, denen das Wohl der eigenen Bevölkerung gleichgültig ist und die es bevorzugen, die Zusammenarbeit mit internationalen Konzernen zum eigenen Vorteil zu nutzen. Daher sollten hiesige NGOs, Parteien, Gewerkschaften und Initiativen vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen im globalen Süden unterstützen, die bereit sind, dort ein Gegengewicht gegen Konzerne und korrupte Politik zu schaffen. Dazu gehören zum Beispiel die kleinbäuerlichen Verbände, die es, wie Gertrud Falk berichtete, in großem Umfang in Afrika gibt. Sie haben geschafft, bei der FAO (Food and Agriculture Organization der UN) und anderen UN-Gremien gleichberechtigt bei Verhandlungen mit am Tisch zu sitzen. Sie besitzen häufig die Kraft, auch afrikanische Regierungen unter Druck zu setzen und verdienen Unterstützung.
Auch unsere eigene Regierung und die Institutionen der EU, namentlich das EU-Parlament, sind geeignete Adressaten für Erklärungen, Proteste und andere Aktionen.
Armut und Hunger sind kein unüberwindliches Schicksal. Die schlechten Lebensbedingungen in vielen afrikanischen Ländern werden zu einem erheblichen Teil von der Politik der Industrieländer verursacht. Die EU hält die früheren Kolonien in Abhängigkeit, indem sie die alte Arbeitsteilung zwischen Rohstofflieferländern und Industrieländern verfestigt und die billigen Arbeitskräfte für ihre Zwecke nutzt. Das ist neokoloniale Politik.
Unser Wohlstand beruht zu einem erheblichen Teil auf der Armut Afrikas. Eine andere Politik liegt auch im europäischen Interesse, denn wenn sich die Lebensverhältnisse in Afrika weiter verschlechtern, werden mehr und mehr Menschen auf der Suche nach besseren Lebensverhältnissen die riskante Flucht nach Europa wagen.
Quellen:
[1] Die Agreements on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) dienen zur Sicherung geistiger Rechte.
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